Reformpädagogik
Begriffsbestimmung, Geschichte und Personen - Herr Hager (2007/2020)
3. Anfänge der Reformpädagogik in Deutschland
Auch wenn die Rede Kaiser Wilhelms II. vor der Schulkonferenz von 1890 nicht von allen Autoren als "Beginn der 'Reformpädagogik'" angesehen wird, einige Autoren sogar überhaupt kein bestimmtes Datum für den Beginn der Reformpädagogik ausmachen können [42], so wird in ihr jedoch die kritische Auseinandersetzung mit dem bisherigen preußisch-deutschen Schulwesen und dessen Unterrichtswirklichkeit in prägnanter Form zum Ausdruck gebracht. Zum einen ist dies die Kritik an der fehlenden Verbindung von Schule und Leben, d. h. es wird die Realitätsferne der schulischen Ausbildung, besonders an den Gymnasien, angeprangert. Wilhelm II. bemerkt in seiner Rede, dass die derzeitige Methode der schulische Ausbildung, er nennt sie "Gymnastik des Geistes", nicht die Kenntnisse über die für das Leben notwendigen Dinge vermittle [43]. Des Weiteren kritisiert er die Überlastung der Schüler durch zu hohe Unterrichtsstundenzahlen (bis zu 37 Stunden pro Woche) und eine unüberschaubare Stoffmenge. Außerdem sei das Pensum an Hausaufgaben, genannt werden bis zu 7 Stunden täglich für die Erledigung, viel zu hoch.
Aus diesen Gründen forderte Wilhelm II. eine Reduktion der Stundenzahlen und der Stoffmenge auch für die Abschlussprüfungen. Nach Meinung des Kaisers sollten die Schulen nicht nur Orte der Wissensaneignung sein, sondern hätten auch einen erzieherischen (und damit schließlich auch einen politischen) Auftrag. Dieser Erziehungsauftrag sei bisher nicht genügend berücksichtigt worden. Die Erziehung, die die Schule aufgrund der Tatsache, dass sie die Kinder dem Elternhaus entziehe, übernehmen müsse, solle eine Erziehung der Jugend zu "jungen Deutschen sein". "Und da fehlt es vor Allem an der nationalen Basis. Wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." [44] Es wird deutlich, dass Wilhelm II. auch eine Reform der Unterrichtsinhalte durchsetzen wollte. Gegen das humboldtsche, neuhumanistische Gymnasium und dessen altphilologische Ausbildung wollte er "das Deutsche" zur Grundlage der schulischen Ausbildung machen. Neben dem "deutschen Aufsatz" sind hier vor allem deutsche Nationalgeschichte, Geographie und "die Sage" zu nennen.
Im letzten Teil seiner Rede spricht Wilhelm II. zwei Punkte an, die ich in Bezug auf die reformpädagogischen Bemühungen Fritz Karsens (s. u.) besonders interessant finde. Zum einen fordert er: "…jeder Lehrer, der gesund ist, muss turnen können, und jeden Tag soll er turnen." [45] Nach Aussagen seiner Tochter maß auch Karsen, der nachträglich die Prüfung zum Turnlehrer ablegte, dem Sport große Bedeutung bei der Erziehung der Kinder bei. [46] Die Motivation des Kaisers und Karsens dürfte dabei jedoch höchst unterschiedlich sein. Zweitens geht der Kaiser auf die sog. "Schulkrankheiten" ein (er nennt vor allem die Kurzsichtigkeit). Die "Masse der Kurzsichtigen" führt er offenbar auf sie schlechten räumlichen Verhältnisse an den Schulen (wenige und zu kleine Fenster, ungenügende Belüftung) zurück. Eine neue Schularchitektur fordert Wilhelm II. zwar nicht ausdrücklich, die Aussage könnte jedoch in diese Richtung interpretiert werden. In wie weit Karsen und Taut die "Schule am Dammweg" (s. u.) auch unter medizinisch-hygienischen Gesichtspunkten planten, wäre in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse.
Nach Meinung Scheibes und Röhrs' war die kulturkritische Bewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der "Untergrund" [47] bzw. "Keimboden" [48] für die Reformpädagogik, wobei besonders die Autoren Friedrich Nietzsche (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, EA Leipzig 1874), Paul Anton de Lagarde (Deutsche Schriften, 2 Bd., EA Göttingen 1878-81) und Julius Langbehn (Rembrandt als Erzieher, EA Leipzig 1890) herausgestellt werden. Kennzeichnend für die von diesen Autoren vorgetragene Kulturkritik ist der kulturphilosophische Ausgangspunkt, durch den die Bildungsfragen in einem allgemeinen Zusammenhang gerückt werden.
In "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", der zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung", kritisiert Nietzsche die durch ein Übermaß von Geschichte korrumpierte, lebensfremde Bildung seiner Zeit. Dieses Übermaß, hervorgerufen auch durch die Wissenschaft von der Geschichte, "zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie." [49] Historie bzw. Geschichte ist für ihn jedoch nicht von vornherein unbrauchbar oder schädlich. Sie muss "im Dienste des Lebens" [50], der Gegenwart und der Zukunft stehen und darf den Menschen nicht einengen oder belasten. Außerdem dürfe die Beschäftigung mit Geschichte, Nietzsche nennt drei "Arten der Historie" (Geschichtsbetrachtung), die monumentalistische, die antiquarische oder die kritische Art [51], nicht "entarten". Die genannten drei Arten sollen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander stehen. Den "lebensdienlichen" Arten der Geschichtsbetrachtung stellt Nietzsche die möglichen, lebensfeindlichen "Entartungen" gegenüber und versucht dem Leser die Gefahren aufzuzeigen, die in ihnen liegen: u. a. die Verfälschung der Historie/Geschichte selbst [52], Anhäufung nutzlosen historischen Wissens, Verhinderung und Ablehnung des Neuen und Werdenden [53] und Beschränkung des historischen Betrachtungsraumes. [54] Nietzsches Kritik gipfelt in der Forderung nach einem "Gegenmittel gegen die Überwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit." Dieses "natürliche Gegenmittel" sei "das Unhistorische und das Überhistorische" deren sich die Jugend zur Rettung der Bildung bedienen müsse. [55]
In seinem Aufsatz "Über die Klage, dass der deutschen Jugend der Idealismus fehle" [56] entgegnet Paul de Lagarde auf die von verschiedenen Seiten vorgebrachte Klage über den kulturellen und ideellen Niedergang der deutschen Jugend. De Lagarde ist der Auffassung, dass dieser Niedergang nicht von der Jugend, sondern von der Erwachsenengeneration verschuldet sei, die ihrerseits einem fragwürdigen Idealismus, dem traditionellen Bildungsidealismus, huldige. Die Jugend handle richtig und tue gut daran, dem Idealismus der Eltern, der in Wahrheit ein eklektizistischer Idealismus sei, nicht zu folgen. Die gegenwärtige Zeit sieht De Lagarde demnach als einen "Pluralismus der Standpunkte, Anschauungen und Ideale" [57], in der es die Erwachsenen den Jugendlichen überlassen hätten, sich zu entscheiden.
Ähnlich wie Nietzsche kritisiert De Lagarde ebenfalls den Historismus und den dadurch entstandenen historischen Bildungsballast seiner Zeit. Als Gymnasiallehrer geht seine Kritik jedoch noch mehr ins Detail. Er wendet sich gegen zu großen Klassen, die Stofffülle und Zusammenhangslosigkeit des Unterrichts, der die Jugend zu Tieren mache, die niederzuwürgen hätten, was ihnen zu bestimmten Zeiten vorgesetzt werde. Dem herrschenden Bildungssystem stellt De Lagarde sein "aristokratisches" Bildungswesen in einem "aristokratischen Staatswesen" gegenüber. Die Grundfertigkeiten (Volksbildung) Lesen, Schreiben und Rechnen habe jeder Mensch "in irgendeiner Art Schule zu lernen." [58] Das Schulsystem sei so zu gliedern, dass "die späteren Repräsentanten der verantwortlichen Ämter die Gymnasien besuchen." Daneben sieht De Lagarde eine Vielzahl praktisch orientierter Unterrichtseinrichtungen (Volksschulen, Ackerschulen, Handwerksschulen, Handelsschulen, polytechnische Schulen), die ihren Schülern bei entsprechender Eignung den Weg in die Aristokratie ermöglichen könnten. [59]
Schließlich soll an dieser Stelle noch der als "Rembrandt-Deutscher" bekannt gewordene Kunsthistoriker und Schriftsteller Julius Langbehn erwähnt werden, der in seiner 1890 anonym erschienenen Schrift "Rembrandt als Erzieher" den Verfall des "geistigen Lebens des Deutschen Volkes" [60] beklagte. Die Ursache dieses Verfalls und die "Verkümmerung der individuellen schöpferischen Kräfte" [61] sieht er in der Herrschaft des Rationalismus und der Wissenschaft in allen Lebensbereichen ("Verwissenschaftlichung"). Der zersplitternden und zerstörerischen Wirkung der Wissenschaft stellt er die schöpferische Kraft der Kunst gegenüber. Die Wissenschaft habe durch ihr Spezialistentum zur Einseitigkeit und Äußerlichkeit der Bildung, zu einer Zersplitterung des Wissens bzw. der Bildung in mikroskopische Einzelteile beigetragen und so den Blick für das Ganze verstellt. Demgegenüber sei die Kunst (Rembrandt als philosophierendes Kunstgenie) ihrem Wesen nach ganzheitlich und müsse als Vorbild für die künftige deutsche Bildung dienen. Nur aus dieser Ganzheitlichkeit im Denken und Handeln könnten große Leistungen hervorgehen. Nach Ansicht Langbehns denke nur "das Volk" und nicht die Gelehrten ganzheitlich und deshalb müsse "die Erneuerung des geistigen Lebens … 'von unten' her" erfolgen." [62] Damit rückt für ihn eine von der Kunst (nicht von der Wissenschaft) geprägte "Volksbildung" in das Zentrum der pädagogischen Bemühungen.
Um zur Anfangsproblematik der Datierung des Beginns der Reformpädagogik zurückzukehren, muss an dieser Stelle noch das Jahr 1900 und das Erscheinen des Buches "Das Jahrhundert des Kindes" [63] der schwedischen Lehrerin Ellen Key (1948-1926) erwähnt werden. Am ausführlichsten von den drei hier zitierten Autoren geht Wolfgang Scheibe auf Keys pädagogisches Konzept ein. [64] Er nennt das Werk "den Auftakt der Pädagogischen Reformbewegung" und spricht der Autorin das Verdienst zu, als erste die Grundzüge der neuen Pädagogik und der "neuen Schule" ("Zukunftsschule") [65] formuliert zu haben. Dabei steht Key der schulischen Erziehung zunächst äußerst kritisch gegenüber. Zu Beginn des sechsten Kapitels, "Die Schule der Zukunft", fordert sie die Erziehung der Kinder im Rahmen des "häuslichen Unterrichts"[66] und lehnt Kindergärten und Kleinkindschulen ab. Key denkt die Erziehung konsequent "Vom Kinde aus" [67] und fordert die Umgestaltung des bisherigen Erziehungssystems. Bisher hätten die Erwachsenen auf das Kind im negativen Sinne herabgeschaut und es in seine Bedürfnissen nicht ernst genommen. In ihrem Buch wirft sie den Eltern und Erziehern die "physische und psychische Misshandlung" des Kindes vor, die aus der Unkenntnis der "wirklichen Natur des Kindes" [68] und der Ignoranz der Erwachsenen resultiere. Es müsse jedoch jetzt endlich ein Umdenken stattfinden und mit überkommenen Traditionen gebrochen werden. Mit Goethe stellt Key fest, "dass Glück die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist." [69] Dementsprechend fordert sie ein Ernstmachen mit den oft nur lautstark vertretenen Forderungen wie "Selbsttätigkeit" des Kindes oder "Wahlfreiheit" der Unterrichtsthemen. Bei ihr wird der Lehrer bzw. die Lehrerin zum Beobachter und Berater des Kindes. Grundlage der Erziehung ("Erziehungsmittel") wird "die Selbstbeobachtung und Selbstarbeit des Kindes" [70] und die Schule wird zum Anbieter von Erziehung und Bildung, "aber zwingt sie niemandem auf." [71]
Bei der Beschäftigung mit Keys richtungweisendem Werk darf jedoch die im ersten Kapitel, "Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen", vorgetragene Verbindung von Rassenlehre, Eugenik und Euthanasie, die ich persönlich für menschenverachtend und unerträglich halte, nicht übersehen werden. In Anlehnung an Nietzsches Konzeption des "Übermenschen" [72] fordert sie die "Bildung eines neuen und höheren Menschengeschlechts". Gestützt auf historische Beispiele (Sparta) und theoretische Entwürfe (Morus, Sozialdarwinisten) kann sie sich mit der Konzeption einer Eugenik (Galton, "Wissenschaft von der Veredelung der Rasse") [73] anfreunden. Um das Heranwachsen erbgeschädigter Kinder zu verhindern befürwortet sie ebenfalls eine gewisse Auswahl der Ehepartner, die sie jedoch nicht allein auf ein "ärztliches Zeugnis vor der Eheschließung" [74] beschränkt. Die "Milde" bzw. "Barmherzigkeit" des Christentum gegenüber Schwachen und Kranken (Kinder u. Erwachsene) verurteilt Key als Grausamkeit. Diese "Milde" sei in Wirklichkeit eine Folter, da "sie das Leben des psychisch und physische unheilbar kranken und missgestalteten Kindes zur Qual für das Kind selbst und seine Umgebung verlängert." Sie spricht sich im Folgenden für eine "Auslöschung" eines solchen Leidens unter ärztlicher Kontrolle und Verantwortung aus. [75]
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Anmerkungen:
[42] Oelkers 1989, S. 21; Eine direkte Folge der Konferenz von 1890 war eine Reform des Gymnasiums und eine Aufwertung der Oberrealschule, siehe: Ullmann, Hanns-Peter, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt/Main 1995, S. 186.
[43] Wilhelm II., Rede zur Eröffnung der Reichsschulkonferenz, in: Deutsche Schulkonferenzen, Bd. I. Verhandlung über die Fragen des höheren Unterrichts, Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890, Glashütten i. T. 1972, S. 70-76; siehe S. 72.
[44] ebd.
[45] ebd. S. 76.
[46] Sonja Karsen, Die fortschrittliche Pädagogik meines Vaters Fritz Karsen an seiner Reformschule in Berlin-Neukölln, seine Entlassung und seine Flucht aus Deutschland, in: Wolfgang Keim, und Norbert H. Weber (Hrsg.), Reformpädagogik in Berlin – Tradition und Wiederentdeckung. Festschrift für Gerd Radde, Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998, S. 137 (Studien zur Bildungsreform, Bd. 30).
[47] Scheibe 1999, S. 5.
[48] Röhrs 19985, S. 25.
[49] Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1999, S. 18.
[50] ebd.
[51] ebd. S.19.
[52] ebd. S. 24.
[53] ebd. S. 20 und 30.
[54] ebd. S. 30.
[55] ebd. S. 108. Zur Begriffsbestimmung bzw. -annäherung "unhistorisch" und "überhistorisch" siehe: ebd. S. 9 und 14.
[56] geschrieben in Rom 1885, später in die Ausgaben der "Deutschen Schriften" aufgenommen.
[57] Scheibe 1999, S. 21.
[58] Röhrs 19985, S. 40.
[59] ebd.
[60] Scheibe 1999, S. 6; Man achte auf den Titel der Schrift im Vergleich zu Nietzsches dritter "Unzeitgemäßer Betrachtung" "Schopenhauer als Erzieher", EA Leipzig 1874.
[61] ebd. S. 139.
[62] ebd. S. 11.
[63] Key, Ellen, Das Jahrhundert des Kindes. Studien, hg. v. Hermann, Ulrich, Weinheim, Basel 1991 (deutsche EA Berlin 1902, schwed. Originalausgabe 1900).
[64] Scheibe, 1999, S. 52-52.
[65] Key 1992, S. 164.
[66] ebd.
[67] Titel der 1920 von Johannes Gläser herausgegebnen Aufsatzsammlung.
[68] Key, in Oelkers 1989, S. 79.
[69] Key 1992, S. 175.
[70] ebd. 178.
[71] ebd. 184.
[72] Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, Stuttgart 1993, S. 6ff.
[73] Key 1992, S. 22.
[74] ebd. S. 22.
[75] ebd. S. 30.