Reformpädagogik
Begriffsbestimmung, Geschichte und Personen - Herr Hager (2007/2020)
2. Vorläufer der Reformpädagogik
In den von mir genannten Publikationen von Scheibe, Röhrs und Oelkers werden an verschiedenen Stellen und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die Beeinflussung der reformerischen Bewegungen d. h. der Pädagogik zwischen 1890/1900 und 1932/33 durch die Pädagogik des 17. und 18. Jh. genannt. Dabei rücken besonders Johann Amos Comenius (1592-1670), Jean Jacques Rousseau (1712-1778) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) in den Vordergrund [25].
Comenius gilt als der bekannteste Vertreter der pansophischen Denktradition. Die Pansophie verstand sich als eine universale Wissenschaft religiös-naturphilosophischer Prägung, die die Grundannahme vertrat, dass alle Menschen grundsätzlich die Fähigkeit zur Einsicht besäßen und dadurch Teilhabe am "göttlichen Allwissen" [26] erlangen könnten. Höchstes Ziel Comenius' war es, durch Erziehung zur Einsicht die Zwietracht unter den Menschen zu beseitigen und dadurch einen universalen und dauerhaften Frieden zu schaffen. Seine didaktisch-pädagogischen Grundsätze sind in den Opera Didactica Omnia [27] niedergelegt, deren zentraler Teil die Didactica Magna (Große Didaktik bzw. Unterrichtslehre) bildet. Comenius' erzieherische Theorie gründet sich auf religiös-christliche [28] und philosophische Grundsätze. Zunächst stellt er fest, dass der Mensch "von Geburt aus fähig ist, das Wissen von den Dingen zu erwerben." Diese Fähigkeit gehe daraus hervor, "dass er [der Mensch, Anm. Hager] das Abbild (imago) Gottes ist." [29] Das Wesen eines Abbildes liege darin, dass es die Grundzüge seines Urbildes (archetypus) trage. Da nun der Mensch das Abbild Gottes sei und Gott allwissend, müsse der Mensch einen "Abglanz" [30] dieser Fähigkeit haben, also die Fähigkeit das Wissen von den Dingen zu erwerben. Weiterhin stellt Comenius fest, dass der Mensch nicht nur bildungsfähig, sondern auch bildungsbedürftig sei. Wie das Lehren und Lernen zu geschehen habe, wird durch das Motto der Titelvignette der Opera verdeutlicht: "Omnia sponte fluant – absit violentia rebus" [31]. Für die Praxis entwickelte Comenius einige Grundsätze und Regeln, die die "Sicherheit, Leichtigkeit, Dauerhaftigkeit und Ökonomie des Lernens" gewährleisten sollten, z. B.: "Alles ist von innen, von seinem Zentrum her zu beginnen; der Weg soll vom Leichten zum Schweren, vom Nahen zum Fernen, vom Allgemeinen zum Besonderen führen." [32] Das Schulsystem gliedert Comenius entsprechend der vier Jahreszeiten in vier Schulen bzw. Ausbildungsabschnitte [33]. In der sog. "Mutterschule" bzw. "Schule der Kindheit" (vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr) üben die Kinder im häuslichen Rahmen vor allem ihre "äußeren Sinne" und lernen, sich in der Welt zurechtzufinden. In der "Grund-", oder "Gemeindeschule" bzw. "Muttersprachschule" (sechstes bis zwölftes Lebensjahr) erlernen die Kinder die Sprache ihres eigenen Landes (Muttersprache) und üben ihre "inneren Sinne", das Vorstellungsvermögen und das Gedächtnis durch "Lesen, Schreiben, Singen, Rechnen, Wägen, Messen und mancherlei Auswendiglernen". In der "Lateinschule" bzw. dem Gymnasium (zwölftes bis achtzehntes Lebensjahr) erlernen die Schüler die alten Fremdsprachen bzw. die Sprachen (Latein, Griechisch) und erhalten einen Einblick in die Wissenschaften (Dialektik, Grammatik, Rhetorik usw.). Hierdurch soll ihr Verständnis der Dinge und Urteilsvermögen herangebildet werden. Die letzte Stufe ist die Universität bzw. das Reisen (achtzehntes bis vierundzwanzigstes Lebensjahr) und die Beschäftigung mit Theologie, Philosophie, Medizin und Jura. Die Universität beschreibt Comenius als Ausbildungsstätte für künftige Lehrer und Leiter für Kirchen, Schulen und Staaten.
Die Mutterschule und die Grundschule hatte Comenius für die "gesamte Jugend beiderlei Geschlechts" konzipiert, wohingegen die Lateinschule und die Universität für junge Männer, "die nach Höherem als einem Handwerk trachten" bestimmt waren. Der angenommene Grundsatz, dass alle alles gemäß ihren Fähigkeiten lernen sollen, wurde von Comenius also nicht konsequent gedacht.
Bedeutende theoretische Anstöße erhielt die Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts nach Meinung Scheibes [34] durch die Rousseausche Erziehungstheorie, auf die sich eine "neue Anthropologie des Kindes" [35] aufbaute. Der erstmals im Jahre 1762 veröffentlichte Erziehungsroman "Émile ou de l'éducation" stellt einen Gegenentwurf zu John Lockes Traktat "Some thoughts concerning education" [36] dar. Ganz entschieden wendet sich Rousseau gegen dessen Auffassung, Kinder seien als "unreife Erwachsene" zu betrachten, "die in die Lehre gingen, um reifer zu werden, Fähigkeiten zu erwerben und Gewerbe zu erlernen, die sie auf ihre Laufbahn als Gentlemen vorbereiten sollten." [37] Genau um diese Abhängigkeit der Jugend von anderen (Eltern, Gesellschaft, Staat) zu überwinden und Selbstvertrauen zu gewinnen, entwirft Rousseau im "Émile" ein konkretes Erziehungsprogramm, dessen Ziel die Befreiung der Kinder von den Erwartungen der Erwachsenen ist, damit sich ihre Fähigkeiten frei entwickeln können. Als erster Theoretiker nimmt Rousseau Kinder und Jugendliche - diese Periodisierung der Kindesentwicklung stammt von ihm und findet auch heute in differenzierter Form noch Anwendung - als Personen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen ernst. Er sieht das Kind als "für sich lebend", d. h. es kennt nur die "Welt der Dinge" und "sich selbst nur im Verhältnis zu den Dingen". Der Erzieher soll sich aufgrund dieses Umstandes jeglicher direkter Einwirkung auf das Kind enthalten und stattdessen indirekt durch "Reize und Umweltsituationen" auf das Kind einwirken. Als Jugendlicher wiederum gerät das Individuum durch das "Bedürfnis nach Liebe" in die Abhängigkeit seiner Mitmenschen. Die "Welt der Dinge" wandelt sich nun in die "Welt der Gesellschaft" [38]. Der Erzieher versucht nun durch behutsame Hinführung zu Kunst, Literatur und Religion die Erziehung weiterzuführen. In Rousseaus Roman wird die Erziehung Émiles durch die Liebe zu Sophie und eine Erziehung zur Liebe an sich vollendet.
Von den zahlreichen pädagogischen Ideen, die Pestalozzi in seinem sehr umfangreichen Werk formuliert hat, sollen hier, neben der Konzeption der Erziehung als "Menschenbildung" (s. o.), zwei weitere Aspekte genannt werden. Zum einen ist dies der Gedanke, dass schulische Erziehung dazu beitragen soll, Kindern und Jugendlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Verbesserung ihrer Lebenssituation und ihrer sozialen Stellung zu vermitteln. "Über alles erhob sie (die Kinder) die Aussicht, nicht ewig elend zu bleiben, sondern einst unter ihren Mitmenschen mit gebildeten Kenntnissen und Fertigkeiten zu erscheinen, ihnen nützlich werden zu können, und ihre Achtung zu genießen." [39] Zum anderen vertrat Pestalozzi die Ansicht, dass im Grunde die "häusliche Erziehung", d. h. die Erziehung durch die Eltern insbesondere durch die Mutter, die wahre Grundlage der Erziehung sei. Aus dieser Idee heraus gründete Pestalozzi Erziehungsheime, um zu zeigen, dass das öffentliche Erziehungswesen durch die Nachahmung der "häuslichen Erziehung" große Fortschritte erzielen könne. [40] Der Gedanke der Schule als "erweiterte Familie" [41] wurde in der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jh. z. B. von Bertold Otto (1859-1933) bei der Konzeption seiner Berliner "Hauslehrer-Schule" (Berthold-Otto-Schule, gegründet 1906) aufgegriffen.
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Anmerkungen:
[25] Röhrs nennt z. B. Comenius im Zusammenhang mit dem "arbeitsunterrichtlichen Verfahren" Kerschensteiners (19985, S. 221). Scheibe stellt Comenius und Rousseau in Zusammenhang mit der Forderung Ottos, Kerschensteiners u. a. nach einem "natürlichen Unterricht" (1999, S.79). Oelkers verweist schließlich auf den Einfluss des von Pestalozzi entworfenen Konzepts einer "Volksbildung" als "die Notwendigkeit, für künftige Tätigkeiten auszubilden" im Zusammenhang mit Kerschensteiner.
[26] Cremonini, Andreas, s. v. Pansophie, in: Prechtel, Peter und Burckard, Franz-Peter (Hg.) 1996, S. 379.
[27] Erstausgabe Amsterdam 1657.
[28] Comenius gehörte der protestantischen Religionsgemeinschaft der Böhmisch-mährischen Bruderunität an, die aus der hussitischen Bewegung (Jan Hus, verbrannt 1415 auf dem Konstanzer Konzil) hervorging. Als Bischof und Sprecher der Böhmischen Brüder kämpfte er um die Anerkennung seiner aus Böhmen vertriebenen Glaubensgemeinschaft als eigenständige Kirche. Diese wurde jedoch auf dem Friedensschluss zu Osnabrück (Westfälischer Frieden 1648) nicht anerkannt.
[29] Comenius, Didactica Magna, hg. v. Flintner, Andreas, 19938, S. 32.
[30] ebd.
[31] "Alles fließe von selbst – Zwang sei den Dingen fern."
[32] Scheuerl, in: Scheuerl (Hg.), Bd. I, 19912, S. 78.
[33] Comenius, 19938, S. 190ff.
[34] Scheibe, 1999, S. 57-61.
[35] ebd. S. 57.
[36] dt. "Gedanken über Erziehung", Erstausgabe London 1693 (anonym).
[37] Wokler 1999, S. 139.
[38] Diermeier, Daniel, s. v. Émile ou de l'éducation, in: Volpi, Franco und Nida-Rümelein, Julian (Hg.) 1988, S. 210.
[39] Pestalozzi, Johann Heinrich, Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz (1799), in: Beuler, Kurt und Horster, Detlef (Hrsg.), Pädagogik und Ethik, Stuttgart 1996, S. 75.
[40] ebd. S. 66.
[41] Scheibe 1999, S. 90.
Abbildung:
Comenius-Denkmal im "Böhmischen Dorf", Berlin Neukölln; Foto: Deutsche Comenius-Gesellschaft e. V.