Das Spektrum des Begriffs Verantwortung1
1. Prolog
Der Begriff Verantwortung ist inzwischen in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen und auch die aktuelle, wissenschaftliche Verantwortungsdiskussion hat jeden Bereich unseres Lebens erfasst. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben sollen und müssen wir Verantwortung tragen. Jeder Berufsstand, vom Arbeiter über den Angestellten bis zum Akademiker und Manager, trägt Verantwortung oder wird ermahnt diese zu übernehmen. Fast in jeder Nachrichtensendung erfahren wir, dass jemand für etwas Verantwortung übernehmen musste oder für bestimmte Handlung bzw. Unterlassungen die Verantwortung trägt und dafür demnächst - in einem Gerichtverfahren - zur Rechenschaft gezogen wird.
Besondere Bedeutung kommt dem Begriff Verantwortung im politischen Bereich zu. Hier wird er jedoch oft in sein Gegenteil verwandelt. Die Phrase "Verantwortung übernehmen" ist dabei zu einer Art berufspolitischem Code geworden. Er bedeutet dabei nichts anderes als Rausschmiss, Ausschluss aus der Partei oder Rücktritt von einem Amt - zumindest scheint die Karriere der betreffenden Person (vorerst) beendet zu sein.
In diesem Sinne ist der Begriff Verantwortung also in sein Gegenteil verkehrt worden. Die Übernahme von Verantwortung und damit die Aufgabe einer politischen Position oder eines Amtes ist zu einer Flucht vor der Verantwortung geworden. Durch den Rücktritt entzieht man sich der meist vom politischen Gegner vorgebrachten Aufforderung, sich für bestimmte Bemerkungen, politische oder auch außerpolitische Arbeit oder Versäumnisse zu rechtfertigen. Mit der von Weischedel herausgearbeiteten Bedeutung des Begriffs Verantwortung als "sich offenbarmachen gegen eine Frage" [1a] ist die Übernahme politischer Verantwortung nicht in Einklang zu bringen.
Zuletzt wurde, nachdem vor allem im fachphilosophischen Bereich über das Verhältnis der Wissenschaften zum Begriff Verantwortung gesprochen wurde, verstärkt über Verantwortung im Zusammenhang mit dem Geschäftsgebaren von Großunternehmern und Wirtschaftsmanagern diskutiert. Ob diese Kontroverse auch Eingang in den philosophischen Diskurs findet ist noch nicht abzusehen.
Vor dem Hintergrund spektakulärer Gerichtsverfahren gegen bedeutende Vertreter der deutschen Geldwirtschaft kommt der Rechtsprechung, die sich professionell mit dem Thema Verantwortung auseinandersetzt, auch in der historischen Rückschau eine besondere Bedeutung zu. Heidbrink hat darauf hingewiesen, dass "die Karriere des Verantwortungsbegriffs […] erstaunlich jung" [2] sei. Erst im 20. Jahrhundert sei der Verantwortungsbegriff zu einer "normativen Grundkategorie" geworden und "auf unterschiedliche Organisations- und Operationsbereiche der Gesellschaft angewendet" worden. Seinen Ursprung hat der Begriff nicht in der Philosophie, sondern in der Rechtsprechung und wollte man einen Zeitpunkt angeben, seit dem der Begriff zur Grundkategorie geworden ist, so böte sich meiner Ansicht nach der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg (sog. Nürnberger Prozess, 1945/46) [3] und dessen Nachfolgeprozesse [4] an. In ihnen wurden bedeutende Staats- und Politfunktionäre sowie Vertreter verschiedenster Berufstände in leitenden Positionen (Juristen, Ärzte, Industrielle, Bankiers, Beamte), die dem nationalsozialistischen Unterdrückungssystem dienten und sich an Vernichtungsaktionen beteiligten oder von ihnen profitierten, zur Verantwortung gezogen. Für die internationale Rechtsprechung aber auch für die Entwicklung berufsspezifischer ethischer Normen waren diese Prozesse besonders bedeutsam (z. B. im Bereich der medizinischen Forschung am Menschen, siehe sog. Nürnberger Kodex von 1947).
Von diesen Vorbemerkungen ausgehend möchte ich im Weiteren insbesondere auf die Positionen und Analysen Bocheńskis, Weischedels und Lenks eingehen und aufzeigen
a) was der Begriff bedeutet und wie er verwendet werden kann,
b) welche Arten von Verantwortung voneinander unterschieden werden
können und
c) ob und in wie weit Institutionen und
Organisationen Verantwortungsträger sein und für ihre Handlungen zur
Rechenschaft gezogen werden können.
2. Bedeutung und Grammatik des Begriffs Verantwortung (Bocheński/Weischedel)
Weischedels Ausgangspunkt für die Analyse des Begriffs Verantwortung bildet die Umgangsprache. Er nähert sich einer genaueren Bestimmung also über eine empirische Untersuchung des "Sprachgebrauchs von Verantwortung", seine Grundlage ist das Phänomen Verantwortung wie es sich in der "gängigen Sprache" darstellt. [5] Weischedel arbeitet zum einen die Reflexivität und zum anderen den responsiven Charakter von Verantwortung heraus und stellt zusammenfassend fest, dass "sich verantworten" als "sich offenbar machen gegen eine Frage" verstanden werden kann (s. o.). In Weischedels kurzen, jedoch sehr anschaulichen Ausführungen lassen sich einige Aspekte erkennen, die für die weiter Begriffsbestimmung, wie sie Bocheński vorgenommen hat, von Bedeutung sind.
Der Begriff Verantwortung beschreibt eine Beziehung (Relation). Bei Weischedel ist dies zunächst, so simpel es erscheinen mag, eine Relation bzw. Interaktion zwischen Menschen. Tiere oder Dinge können sich nicht verantworten und niemanden zur Verantwortung ziehen, da ihnen das Sprachvermögen fehlt. In der Interaktion des Verantwortens kommen den beteiligten Personen, Weischedel geht zunächst von zwei Beteiligten aus, unterschiedliche Rollen bzw. Aufgaben zu. Eine Person tritt dabei als Fragender, die andere als Sich-Verantwortender in Erscheinung. Der Fall, in dem Verantwortung sichtbar wird, ist das Zur-Verantwortung-gezogen-werden. Die Initiative geht also zunächst vom Fragenden aus. Der Grund dessen, dass eine Person zu Verantwortung gezogen wird, ist eine Handlung bzw. eine Unterlassung. Der entsprechenden Tat oder Unterlassung kommt dabei ein besonderer Charakter zu, den Weischedel durch den Ausdruck "Verfehlung" präzisiert. [6] Die Verfehlung muss einer entsprechenden Person zurechenbar sein, um sie dafür zur Verantwortung ziehen zu können. Ist sie es nicht, so muss der tatsächlich Verantwortliche gesucht werden, was u. U. nicht möglich ist, weil z. B. Zuständigkeiten nicht eindeutig oder gar nicht geregelt sind. In diesem Falle kann die Frage des Zur-Verantwortung-Ziehenden ins Lehre gehen.
In der beschriebenen Beziehung muss dem Zur-Verantwortung-Ziehenden bzw. dem Fragenden Autorität zukommen. Besitzt er diese nicht, so kann er zwar seine Frage "Warum hast du dies getan?" stellen, wird jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Antwort erhalten.
Die Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Vernunft, die Weischedel im ersten Teil seiner Studie anstellt, hat der polnische Philosoph, Logiker und Theologe Joseph Bocheński mit den Mitteln der Logik präzisiert. [7] Aus seinen zehn Diskussionspunkten möchte ich nur einige herausstellen.
Bocheński beschreibt Verantwortung als zwei- bis dreistelligen Relationsbegriff. Die meisten Verantwortungsprobleme weisen folgende Struktur auf: Jemand ist einem anderen gegenüber für eine Sache verantwortlich. Aber auch die Zweistelligkeit ließe sich mit Aussagen wie – jemand wird vor einer Instanz als verantwortlich/unverantwortlich erklärt, oder in der Verkürzung jemand ist für etwas verantwortlich – belegen. Verantwortung ist demnach mindestens ein zweistelliger Relationsbegriff bzw. die Relation von Verantwortungssubjekt und Verantwortungsobjekt kann als Teilrelation der o. g. dreistelligen Relation aufgefasst werden.
Auch bei Bocheński erscheit das Subjekt zunächst als Person, d. h. als bewusstes und freies Wesen. Er vermutet, dass der Verantwortungsträger notwendigerweise ein Individuum sein muss und dass es "kollektive Verantwortung" nicht geben könne, sondern vielmehr "Verantwortung mehrerer Personen zusammen." Diese These stellt er als Arbeitshypothese zur Diskussion: "Gibt es eine kollektive Verantwortung – und wenn ja, in welchem präzisen Sinn?" [8]
Die Formulierung "für etwas verantwortlich" legt nach Meinung Bocheńskis die Vermutung nahe, dass es sich beim Verantwortungsobjekt um eine Sache oder eine Person handle. Diese aus dem alltäglichen Sprachgebrauch abgeleitete Vermutung erscheit ihm jedoch zu ungenau und irreführend. Das Verantwortungsobjekt ist seiner Ansicht nach nicht eine Person oder eine Sache, sondern vielmehr "der Zustand einer Sache oder ein Ereignis". Als Beispiel nennt er eine Kindergärtnerin, die ja nicht für die ihr anvertrauten Kinder (Personen) verantwortlich sei, sondern vielmehr für "das Leben, die Gesundheit und das Wohlergehen" (Zustände der Personen).
Zuletzt möchte ich noch die von Bocheński vorgebrachte temporale Komponente der Verantwortung, die in der gegenwärtigen Verantwortungsdiskussion meiner Ansicht nach bisher kaum beachtet wurde, erläutern. [9] Wiederum vom Sprachgebrauch ausgehend bemerkt er, dass vielfach von der Verantwortung für etwas als Verantwortung in der Gegenwart gesprochen werde und nimmt zur Illustration wieder das Beispiel der Kindergärtnerin, von der gesagt werde, sie sei für den gegenwärtigen Zustand (Gesundheit, Wohlergehen, s. o.) verantwortliche. Bocheński ist dagegen der Auffassung, der Begriff Verantwortung beziehe sich auf zukünftige Zustände und Ereignisse. Er begründet dies damit, dass er den Begriff Verantwortung in engem Zusammenhang mit dem Begriff Verpflichtung bringt, die Bergriffe schließlich als Synonyme bezeichnet. Da sich Verpflichtung nur auf Zukünftiges beziehen könne, könne daher Verantwortung auch nur auf Zukünftiges bezogen werden. Auch diese Hypothese stellt Bocheński zur Diskussion.
Lenk hat Bocheńskis Konzept des dreistelligen Relationenbegriffs kürzlich aufgegriffen und es um zwei Stellen erweitert: Jemand ist für etwas gegenüber jemandem vor einer Instanz in Bezug auf Normen, Standards bzw. Regeln im Rahmen eines Bereiches verantwortliche. Es zeigt sich somit, dass hier z. B. mehr als zwei Personen/Akteure am Verantwortungsgeschehen beteiligt sein können.
3. Grundarten von Verantwortung (Weischedel), Verantwortungstypen (Lenk)
Weischedel unterscheidet in seiner Studie drei Arten der Verantwortung:
- die soziale Verantwortung,
- die religiöse Verantwortung und
- die Selbstverantwortung.
Ich möchte im Folgenden lediglich seine Begriffsbestimmung der sozialen Verantwortung herausgreifen, da sie in der gegenwärtigen Verantwortungsdiskussion den größten Platz einnimmt und eine gute Überleitung zu Lenks Konzept bietet. Weischedels Begriffsbestimmungen zur religiösen Verantwortung und zur Selbstverantwortung spielen in der aktuellen Kontroverse dagegen kaum eine Rolle.
Für Weischedels Interpretation bildet die soziale Verantwortung, als öffentlich sichtbare Verantwortung, den Ausgangspunkt. Als Gliederungsprinzip ist für ihn das "Wovor", d. h. also die Frage nach der zur Rechenschaft ziehenden Instanz, von ausschlaggebender Bedeutung. Im Falle der sozialen Verantwortung ist dies der Andere. Bocheńskis Interpretation lehnt sich in diesem Punkt also an Wischedel an, indem von einem "dialogischen Verhältnis zwischen Menschen" ausgegangen wird. Bei Weischedel ist eine weitere Untergliederung der sozialen Verantwortung angedacht, jedoch nicht konsequent fortgeführt. So nennt er als Beispiele die politische Verantwortung (ein Minister wird zur Verantwortung gezogen) oder die rechtliche Verantwortung (jemand muss sich für einen Diebstahl vor Gericht rechtfertigen). Soziale Verantwortung tritt jedoch auch in kleineren Gemeinschaften zu tage und kann auch im Paarverhältnis sichtbar werden. Beispiel hierfür wären u. a. die Ehe, die eine vom Staat geförderte öffentliche Institution darstellt, oder die Freundschaft. Diese beiden Institutionen weisen jedoch im Hinblick auf Weischedels Konzeption einige Schwierigkeiten auf. Zum einen kann mit Recht der öffentliche Charakter einer Freundschaft bezweifelt werden, zum anderen treten bei der Ehe, zumindest bei der Eheschließung, drei Akteure auf: die beiden Ehepartner, die als bewusste und freie Personen betrachtet werden müssen, und der Staat als legitimierende Instanz vertreten durch Standesbeamte. Auch in Bezug auf die rechtliche Verantwortung könnten Zweifel an der Konzeption des dialogischen Verhältnisses zwischen Menschen geäußert werden. Zwar treten vor Gericht Menschen als Kläger, Anwälte, Staatsanwälte und Richter auf, auf Seiten der staatlichen Gewalten muss der Personenstatus jedoch bezweifelt werden. Auch die Anzahl der Parteien und die Prozessart müssten hier genauer berücksichtigt werden.
Hans Lenk hat in einem Aufsatz über das Verhältnis von Verantwortung und Wissenschaft diese Kategorisierungsversuche wieder aufgegriffen, beschränkt sich dabei jedoch, um in der Terminologie Weischedels zu bleiben, auf die er jedoch nicht explizit eingeht, auf den sozialen Bereich und hier insbesondere auf die Wissenschaften. [10] Lenk unterscheidet folgende Verantwortungsarten:
a) die Handlungsergebnisverantwortung bzw. Kausalhandlungsverantwortung,
b) die Rollen- und Aufgabenverantwortung und
c) die universalmoralische Verantwortung.
An anderer Stelle treten bei Lenk zudem die
d) rechtliche Verantwortung und die
e) Gruppen- bzw. Mitverantwortung
hinzu. [11]
Das Konzept Lenks weißt jedoch eine entscheidende Schwäche auf. Der Autor gliedert die von ihm benannten Verantwortungstypen so weit auf, dass es u. U. schwer fällt Verantwortungsfälle zuzuordnen. Auch ist der Zweck dieser detailreichen Untergliederung nicht ganz klar. Zur Handlungsergebnisverantwortung bzw. Kausalhandlungsverantwortung (Beispiel: Ein Forscher ist nicht nur für die Genauigkeit und wissenschaftliche Verwertbarkeit der Ergebnisse seines Experiments verantwortlich, sondern auch für den Zustand seines Versuchsobjektes, z. B. Proband.) treten als Unterarten noch die aktive Verhinderungsverantwortung (auch Unterlassungsverantwortung) und die institutionelle Handlungsverantwortung hinzu.
Die Stärken des Lenkschen Konzeptes liegen meiner Meinung nach vor allem in der Präzisierung der Begriffsgrammatik in Anlehnung an Bocheński sowie in seinen Ausführungen zur Verantwortung von bzw. für Institutionen/Organisationen.
4. moralische Verantwortung von Institutionen/Organisationen (Lenk) und neuer kategorischer Imperativ (Jonas)
Lenk ist der Auffassung dass Institutionen als "'sekundär' Handlende" [12] universalmoralische Verantwortung tragen. Unter Institutionen versteht er im Allgemeinen intentionale Handlungssysteme, die eine in Gruppen oder Gremien strukturierte Entscheidungsstruktur aufweisen und nennt als Beispiel insbesondere Wirtschaftsunternehmen. Der Begriff Institution kann meiner Ansicht nach jedoch sehr weit gefasst werden und über den Bereich der Wirtschaft hinausgehen. So könnten z. B. Universität, Schule, Krankenhaus, Gewerkschaft, Partei, Verein, Bank u. ä. m. unter ihm subsumiert werden.
(Universal)moralische Verantwortung (dritte Hauptkategorie) versteht der Autor als Verantwortung für das leibliche und psychische Wohlergehen anderer Personen oder allgemeiner Lebewesen. In diesem Punkt greift er die Verantwortungstheorie Weischedels wieder auf, bezieht sich auf Jonas' klassische Studie zum "Prinzip Verantwortung". In der Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ hat Hans Jonas einen neuen, modernen kategorischen Imperativ formuliert, mit dem er auf die durch die modernen Wissenschaften entstandenen Handlungsmöglichkeiten reagiert. Jonas' Imperativ bezieht den menschlichen Lebensraum und die Lebensperspektive zukünftiger Generationen in die Verantwortungsdiskussion mit ein.
In diesem Zusammenhang sind Lenks Ausführungen über die Verantwortung von Institutionen zu verstehen. Als sog. "global player" haben z. B. Wirtschaftsunternehmen großen Einfluss auf die derzeitigen aber auch auf die zukünftigen Lebensperspektiven einer Vielzahl von Menschen. Sie tragen deshalb nicht nur im Rahmen ihrer Struktur rechtliche Verantwortung, sondern auch übergreifende – also moralische – Verantwortung für ihr Tun.
Die These von der moralischen Verantwortung von Institutionen wird in der Fachdiskussion jedoch kontrovers diskutiert. Die klassische Verantwortungskonzeption als Dialog zwischen zwei Personen kann hier nicht angewendet werden, da Institutionen nicht als moralische Personen aufgefasst werden können. Die Handlungsabsichten von Institutionen können kaum einer einzelnen, ihr angehörigen Person zugeordnet werden und müssen daher anders bewertet werden. Lenk hat diesen Verantwortungstypus deshalb als "sekundäre moralische Verantwortung" bezeichnet.
Dieses Konzept ist längst von den Institutionen selbst erkannt worden, zumindest in soweit, dass es teilweise für die Außenrepräsentation, z. B. in der Werbung, eingesetzt wird. In wie weit Wirtschaftsunternehmen oder Forschungsinstitutionen ihrer universalmoralischen Verantwortung nachkommen, bleibt ihnen jedoch meist selbst überlassen. Im Bereich der Wissenschaften wurden in den letzten Jahren verstärkt Kontrollinstitutionen (Ethikbeiräte) und Regelwerke (Berufs-/Standeskodices) entworfen, um auf diese Problematik zu reagieren. Diese Art der Selbstkontrolle ist im Bereich der Wirtschaft, der zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, aber wohl kaum anwendbar. Hier übernimmt weiterhin der Staat die Kontrollfunktion und zieht zur Rechenschaft. Ein Berufskodex für Manager, Unternehmer, Bankiers oder Großinvestoren erscheit aufgrund fehlender, effektiver, außergerichtlicher Kontrollinstanzen auch z. Z. wenig sinnvoll.
5. Fazit – zukünftige Themenfelder für die Verantwortungsdiskussion
Nachdem der Begriff Verantwortung im theoretischen Bereich und in den Praxisfeldern Ökologie, Politik und wissenschaftliche Forschung ausgiebig diskutiert worden ist, wird sich meiner Meinung nach die Kontroverse aufgrund aktueller Ereignisse und der von der Politik angestoßenen Kapitalismuskritik mehr in den Bereich der Ökonomie verlagern.
Bereits im Zusammenhang mit der humanmedizinischen Kontroverse und der Vermarktung gentechnischer Forschungsergebnisse wurde der ökonomische Bereich gestreift. Aufgrund der veränderten Wirtschafts- und Arbeitsmarktbedingungen auch im globalen Zusammenhang (Arbeitslosigkeit, Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer und hochspekulatives Geschäftsgebaren finanzkräftiger Großinvestoren) wird das Begriffspaar Verantwortung und Wirtschaft immer interessanter. Nach dem Untergang des Sozialismus in weiten Teilen der Welt und der marktwirtschaftlichen Öffnung noch bestehender sozialistischer Systeme wird das Thema verantwortungsvolles Wirtschaften auch für die philosophische Forschung wichtig werden. Im interdisziplinären Dialog könnten hierbei Strategien entwickelt werden, die zu einer Stärkung des Verantwortungsbewusstseins von Arbeitgebern und Arbeitnehmern führen könnten. Das Thema eröffnet zudem Möglichkeiten auf bereits vorhandene theoretische Grundlagen zurückzugreifen um ihre Anwendbarkeit und Plausibilität zu prüfen.
Abbildungen:
1: Der ehemalige Bundesminister und Bundestagsabgeordnete Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (CSU) musste 2011 die politische und juristische Verantwortung für die Plagiate in seiner Doktorarbeit übernehmen; Foto: dapd/Michael Gottschalk.
2: Das V steht nicht für Verantwortung, sondern für Victory (eng. Sieg). Josef Ackerman beim sog Mannesmann-Prozess im Jahr 2004; Foto: dpa.
3: Ehemaliges Bürogebäude der inzwischen verstaatlichten Hypo Real
Estate Holding AG in der Münchner Unsöldstr. 2. Die Problematik
Verantwortungssubjekte zu bestimmen wird anhand ökonomischer
Krisenfälle besonders deutlich;
Foto: ap.
Literatur:
- Birnbacher, Dieter: Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988.
- Bocheński, Joseph M.: Über einige strukturelle Probleme der Verantwortung, in: ders.: Über den Sinn des Lebens und über die Philosophie, hg. v. Gabler, Darius, Freiburg i. Br. 1987, S. 21-38.
- Heidbrink Ludger: Grundprobleme in der gegenwärtigen Verantwortungsdiskussion, in: Information Philosophie, Heft 3, August 2000, S. 18-28.
- Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, in: Säger: 2001, S. 123-129.
- Lenk, Hans: Komplexe Ebenen der Verantwortung, in: Säger 2001, S. 64-73.
- ders.: Zu einer praxisnahen Ethik der Verantwortung in den Wissenschaften, in: ders. (Hg.), Wissenschaft und Ethik, Stuttgart 1991, S. 54-75.
- Poser, Hans: Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001.
- Weischedel, Wilhelm: Das Wesen der Verantwortung. Ein Versuch, Frankfurt/Main 19723. [13]
- ders.: Drei Grundarten von Verantwortung, in: Sänger 2001, S. 53-59.
- Zenter, Christian: Der Nürnberger Prozess, Berlin 1999 (Digitale Bibliothek, Bd. 20).
Anmerkungen:
[1] Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich ursprünglich um
Vorbereitungen im Zusammenhang mit meiner Prüfung zum Ersten
Staatsexamen für das Amt des Studienrats aus dem Jahr 2005. Die
Ausarbeitungen erscheinen hier in durchgesehener und ergänzter
Fassung.
[1a] Weischedel, in: Sänger 2001, S. 56.
[2] Heidbrink,
in: Information Philosophie 3/2000, S. 18.
[3] Für Zenter ist er
"der größte Strafprozeß der Geschichte"; siehe: Zenter 1999, S. 14.
[4] Trotz der bereits 1933 publizierten, grundlegenden Studie
Weischedels. Dieser konnte, wie dem Thema überhaupt, erst nach dem
Krieg und nach den Prozessen die nötige Aufmerksamkeit geschenkt
werden.
[5] Weischedel 19723, S. 14.
[6] ebd. S. 19.
[7]
Bocheński 1987, S. 142.
[8] ebd. S. 143.
[9] Ausnahme siehe:
Birnbacher 1988; Die analytisch-logische Diskussion bei Bocheński habe
ich allerdings nirgendwo aufgegriffen gefunden.
[10] Lenk, in:
ders. 1991, S. 61-64.
[11] Lenk, in: Sänger 2001, S. 64-73.
[12]
Lenk, in: ders. 1991, S. 66-68.
[13] Erstmals erschienen
Frankfurt/Main 1933, entstanden aus seiner Dissertationsschrift mit
dem Titel "Versuch über das Wesen der Verantwortung", Freiburg i. Br.
10.11.1933.