Herr Hager
Lehrer für Geschichte und Philosophie
 
 

Zur Definition und Interpretation des Begriffs Intuition
in René Descartes' Regulae ad directionem ingenii


1. Prolog

Im alltäglichen Sprachgebrauch begegnet uns der Begriff Intuition häufig in Verbindung mit dem Eigenschaftswort weiblich. Die weibliche Intuition wird dabei als eine quasi übersinnliche Fähigkeit des schönen Geschlechts betrachtet, im Grunde genommen unvorhersehbare Situationen vorausahnen oder erspüren zu können. Dem männlichen Geschlecht kommt diese Eigenschaft oder Fähigkeit, die auch als "sechster Sinn"[1] bezeichnet wird, nicht zu. Dafür verfügen Männer angeblich über eine andere Eigenschaft: die Fähigkeit zum logischen Denken. Männliche Logik und weibliche Intuition werden vielfach gegenübergestellt und dabei als zwei einander entgegen gesetzte Methoden der Lebensbewältigung und Problemlösung betrachtet.

Dass Männer und Frauen unterschiedliche Auffassungen über dieselben Gegebenheiten haben und unterschiedliche Methoden der Problemlösung anwenden, werde durch die alltägliche Erfahrung bestätigt. Dabei wird oft behauptet, dass Männer planvoller und strukturierter - logisch - vorgingen, Frauen dagegen sich mehr von Launen und Gefühlen - von ihrer Intuition - leiten ließen. Diese Feststellungen, von denen mancher behaupten mag sie seien unzutreffend oder sogar sexistisch, erscheinen jedoch nicht so unsinnig.

Die Naturwissenschaften, vor allem die Medizin, Biologie und die Chemie, bemühen sich ernsthaft, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen und können auf Grundlage ihrer Forschungen inzwischen viele Beobachtungen wissenschaftlich erklären. Dies hat auch zu einer Menge populärwissenschaftlicher Publikationen geführt, die sich mit den beobachten Unterschieden zwischen Männern und Frauen und der Frage nach weiblicher Intuition beschäftigen. Die Forschungen und medizinischen Analysen konzentrieren sich dabei hauptsächlich auf die Untersuchungen der männlichen und weiblichen Hirnfunktionen, den Hormonhaushalt sowie auf Untersuchungen über die Leistungsfähigkeit der Körpersinne. [2]

Für Spekulationen über übersinnliche, übernatürliche und scheinbar unerklärliche menschliche Fähigkeiten ist in der Philosophie, wie auch in den anderen Wissenschaften, natürlich kein Platz. Dennoch kennt auch die Philosophie den Begriff Intuition. Es handelt sich dabei um einen sehr alten Begriff, den nach Aussage Schwitzgebels [3] bereits Platon in seiner Ideenlehre angewandt habe, wo er die Erkenntnis der Ideen auf Intuition zurückgeführt habe (gr. nóēsis - Ideenschau, Einsicht). Die mittelalterliche Philosophie berufe sich bei der Gotteserkenntnis auf die Intuition und in der Lehre des Baruch de Spinoza werde die Intuition als höchste von drei Erkenntnisarten betrachtet (Erkenntnis erster Gattung, Meinung oder Vorstellung - Erkenntnis zweiter Gattung, Vernunft - Erkenntnis dritter Gattung, intuitives Wissen; Ethik, 2. Teil, Vierzigster Lehrsatz, 2. Anmerkung). [4]

Zieht man philosophische Wörterbücher zu Rate, so findet man eine Vielzahl teilweise erheblich voneinander abweichender, teilweiser widersprüchlicher Begriffserklärungen, z. B:

  • unvermittelte (und oft auch ganzheitliche) Erfassung von Gegenständen, Sachverhalten, Begriffen, Sätzen, Werten usw.;[5]
  • Anschauung im Sinne unmittelbarer ganzheitlicher Sinneswahrnehmung im Gegensatz zu einem wandernden Beobachten oder abstrahierenden Betrachten;[6]
  • unmittelbares Erkennen, Erfassen, Schauen der Ganzheit oder des Wesens eines Dinges oder Sachverhaltes;[7]
  • "intuitive Erkenntnis heißt die durch unmittelbare sinnliche Anschauung gewonnene Erkenntnis."[7a]

In dieser Arbeit möchte ich mich im Besonderen mit der in der Cartesianischen Erkenntnistheorie vorgetragenen Interpretation und Definition des Begriffes Intuition beschäftigen. Die Grundlage meiner Untersuchung bildet die von René Descartes um 1628/1629 niedergeschriebene, jedoch unvollständig gebliebene, Frühschrift "Regel zur Ausrichtung der Erkenntniskraft" (im Folgenden kurz Regeln genannt, erstmals erschienen Amsterdam 1684 (niederländ.) und ebd. 1701 (lat.), 1906 (dt)).

2. Entstehung, Aufbau und Inhalt der Regeln

Die Schrift entstand vermutlich zwischen den bewegten Jahren 1623 und 1628. [8] Die letzte Überarbeitung datiert auf den Herbst des Jahres 1628. [9] Im Juli 1625 war Descartes nach der Rückkehr von seiner Italienreise nach Paris gereist. Noch immer hatte er sich nicht für eine berufliche Karriere entschieden. Seine Ambitionen, einen militärischen Posten in Italien bzw. ein richterliches Amt in Châtellerault (Poitou) zu erlagen, schlugen zunächst fehl und so ergriff Descartes die Chance, in die Hauptstadt des französischen Königreiches zu reisen, die gleichzeitig der Mittelpunkt des philosophisch-wissenschaftlichen Lebens war. Hier kam er bei einem Freund der Familie unter und konnte nun ungebunden von Verpflichtungen seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen. Auf diese Weise wurde er jedoch auch in die kleineren und größeren Intrigen des Hofes und der Gelehrtengesellschaft hineingezogen. Außerdem wurden seine Arbeiten durch den Kampf gegen die Hugenotten in Südfrankreich unterbrochen. Descartes selbst nahm seit Mitte 1628 an der Belagerung La Rochelles teil, wo er seinen wissenschaftlich-mathematischen Interessen entsprechend die Belagerungstechniken studierte. Trotz der vielfältigen Ablenkungen dieser Zeit hatte er den ersten Teil der Regeln fertig gestellt und die Hauptarbeiten zum zweiten Teil abgeschlossen. Ein dritter Teil war bereits geplant, wurde jedoch nicht ausgeführt. Bis zu seinem Tode 1650 in Schweden befanden sich die unfertigen Ausarbeitungen in seine Unterlagen.

In den Regeln legt Descartes das allgemeine Ziel wissenschaftlicher Studien dar und entwirft eine Methode mit deren Hilfe dieses Ziel, die Gewinnung sicherer Erkenntnisse ("unerschütterliche und wahre Urteile", Regel 1) in allen wissenschaftlichen Gegenstandsbereichen, möglich sein soll. Die Schrift gliedert in drei Abschnitte mit jeweils zwölf Regeln. Besonderes Augenmerk soll hier auf den ersten Teil gelegt werden. Gäbe unterteilt die Regeln des ersten Teils in drei Abschnitte zu je vier Regeln. [10] Der die ersten vier Regeln umfassende Abschnitt stellt eine allgemeine Einleitung dar. Der Benennung des Ziels aller wissenschaftlicher Tätigkeit folgt in Regel 2 die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs. Demnach dürfe man sich nur mit solchen Gegenständen beschäftigen "zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis" [11] die menschliche Erkenntniskraft ausreiche. Jede unbegründbare Vermutung über komplizierte Sachverhalte muss demnach abgelehnt werden. Diese Forderung weitet Descartes aus, indem er darauf hinweist, dass auch die durch die wissenschaftlich-philosophische Tradition überlieferten Erkenntnisse auf ihre Richtigkeit geprüft werden müssten. Es sei zwar eine "außerordentliche Wohltat" [12] das Wissen vergangener Forschergenerationen zur Verfügung zu haben, dennoch dürfe das Maß der wissenschaftlichen Tätigkeit nur diejenigen Erkenntnisse sein, die durch den eigenen Geist entweder "in klarer und evidenter Intuition" oder durch "zuverlässige" Deduktion (Ableitung) aus dem intuitiv Erkannten gewonnen worden sein. Die Einleitung mündet mit der Regel 4 in der Forderung nach methodischem (planvollen) Vorgehen bei allen wissenschaftlichen Untersuchungen:

"Zur wissenschaftlichen Forschung ist Methode notwendig." [13]

Im zweiten Abschnitt (Regel 5-8) wird die Methode genauer beschrieben: stufenweise Zurückführung "verwickelter und dunkler Propositionen" [14] auf einfachere Sachverhalte, Ordnung und Klassifizierung dieser Sachverhalte, Bestimmung der Zusammenhänge, Zusammenfassung / Aufzählung. In Regel 8 beschreibt Descartes den Hauptanwendungsfall seiner Methode: die Feststellung, ob die Lösung eines Problems überhaupt möglich ist und thematisiert somit die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Der dritte Abschnitt (Regel 9-12) umfasst praktische Anweisungen zur Übung der Erkenntniskraft und schließt in Regel 12 mit einer Zusammenfassung des bisher Dargelegten.

Der erste Teil der Regeln stellt also - mit der Einführung der Begriffe Intuition und Deduktion in Regel 3 - das methodische Grundgerüst der Wissenschaften im Ganzen dar. Im Folgenden werden nur diese beiden Verstandeshandlungen bei wissenschaftlicher Tätigkeit zugelassen, da nur durch sie unzweifelhafte und wahre Erkenntnisse gewonnen werden könnten.

3. Definition des Begriffs Intuition

In der Erläuterung zur Regel 3 gibt Descartes seine Definition des Begriffs Intuition:

"Unter Intuition verstehe ich nicht das schwankende Zeugnis der sinnlichen Wahrnehmung oder das trügerische Urteil der verkehrt verbindenden Einbildungskraft, sondern ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, dass über das, was wir erkennen, gar kein Zweifel zurückbleibt, oder, was dasselbe ist: eines reinen und aufmerksamen Geistes unzweifelbares Begreifen, welches allein dem Lichte der Vernunft entspringt und das, weil einfacher, deshalb zuverlässiger ist als selbst die Deduktion, die doch auch, wie oben angemerkt, von Menschen nicht verkehrt gemacht werden kann."[15]

Zunächst ist zu bemerken, dass Descartes seine Definition mit einer Negation bzw. negativen Beschreibung (negative description [16]) einleitet. Er erläutert zu Beginn, was Intuition bzw. intuitives Erkennen nicht ist bzw. auf welche Verstandesfunktionen sie nicht zurückgreift. Sie ist frei von jeder Sinneswahrnehmung, weder fühlen, riechen, schmecken, sehen oder hören sind die Grundlage intuitiven Erkennens. Auch der "verbindenden Einbildungskraft" bzw. der Vorstellungskraft sowie der Erinnerung kommt kein Anteil an intuitiver Erkenntnis zu. Perler [17] hat zudem darauf hingewiesen, dass Intuition hier nicht als ein psychologischer Ausdruck aufzufassen sei. Wie ich bereits in meiner Vorrede erläutert habe, wird der Begriff Intuition meist mit etwas Unbewusstem oder Nicht-Reflektiertem verbunden. Eine Person hat z. B. das Gefühl oder Ahnung, dass etwas Schlimmes (z. B. ein Unfall) passieren wird, kann dafür aber keine Gründe angeben. Tritt der entsprechende Fall ein, spricht man häufig von Intuition oder benutzt die Redewendung "Das hatte ich so im Gefühl." Descartes Definition schließt diese Begriffsverwendung aus. Auch macht er keinerlei geschlechtsspezifischen Unterschied bezüglich der Verstandesfunktionen. Seiner Auffassung nach ist jeder Mensch in der Lage dieselben sicheren und zuverlässigen Erkenntnisse, z. B. vermittels Intuition, zu gewinnen, da der Mensch von Natur aus mit Vernunft begabt sei. [18]

Descartes Definition des Terminus legt vielmehr nahe, dass es sich um seine Funktion bzw. Tätigkeit des "reinen" Geistes handle. Das Adjektiv "rein" beschreibt in diesem Fall die Freiheit von Sinneseindrücken oder Eindrücken der Vorstellungskraft (s. o.). Insofern sind sensualistische Begriffe wie "Sehen", "Anschauung" oder "begreifen" irreführend oder zumindest unscharf, da sie zunächst auf eine Sinnesaktivität hindeuten und so den Kern der Cartesianischen Definition verdecken. Descartes beginnt seinen Weg der Erkenntnis jedoch nicht bei "materiellen Objekten", sondern bei "intelligiblen Objekten", Objekten, die allein durch die geistige Tätigkeit erkannt werden können.

Hier werden bereits zwei Grundthemen der später ausformuliert Cartesianischen Erkenntnistheorie formuliert. Dies ist zum einen das Misstrauen gegenüber den Sinneswahrnehmungen. In der ersten Meditation, fünfter Absatz (1641) hat Descartes dieses Misstrauen prägnant zusammengefasst und zum Ausdruck gebracht:

"Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr angenommen, habe ich von den Sinnen oder durch Vermittlung der Sinne empfangen. Nun aber bin ich dahinter gekommen, dass diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, niemals denen ganz zu trauen, die auch nur einmal uns getäuscht haben." [19]

Zum anderen wird hier das später viel diskutierte Leib-Seel-Problem (bzw. Körper-Geist) unter dem Aspekt eines Dualismus, d. h. einer strikten Unterscheidung zwischen der res extansa (das Ausgedehnte) und der res cogitans (das Denken) angedeutet. [20]

Die Definition grenzt die Intuition auch gegenüber der Deduktion, der zweiten von Descartes zugelassenen Erkenntnisfunktion, ab. Die Intuition wird als mühelos, deutlich und einfach beschrieben. Demnach befasst sie sich auch mit einfachen Erkenntnissen. Diese Einfachheit ist verbunden mit einem hohen Maß an Zuverlässigkeit. Alle durch Intuition gewonnenen einfachen Erkenntnisse sind unbezweifelbar und können im Folgenden als wahr gelten. Damit sind sie auch die Grundlage weiterer Erkenntnisse, die nunmehr jedoch nicht mehr als intuitiv, sondern als aus diesen abgeleitete (deduzierte) Erkenntnisse bezeichnet werden. Gegenüber der Deduktion sei die Intuition jedoch zuverlässiger. Erstere könne zwar auch zuverlässige und wahre Erkenntnis bringen, doch benötige sie ein größeres Maß an Sorgfalt und Aufmerksamkeit, um Fehler bei der Ableitung zu vermeiden. Sobald eine deduktive Verknüpfung intuitiver Erkenntnisse nicht mehr unmittelbar einsichtig und durch den "reinen Geist" einsehbar sei, bestehe deshalb grundsätzlich die Gefahr fehlerhafter Ableitungen. Röd [21] hat darauf hingewiesen, dass Descartes, wann immer er von Ableitungen komplexer Art spricht, die Möglichkeit von Irrtümern einräumt (vgl. Regel 12: "Es bleibt also [von den drei Möglichkeiten der Verbindung einfacher zu komplexen Naturen] allein die Deduktion, durch die wir die Sachverhalte so zusammensetzen können, dass wir ihrer Wahrheit gewiss sind. Gleichwohl können dabei auch recht viele Fehler auftreten, …" [22]).
Nachdem Descartes im Anschluss an seine Definition des Begriffs Intuition einige Beispiele intuitiver Erkenntnisse nennt, weist er schließlich darauf hin, dass sich seine Definition von der weit verbreiteten, zeitgenössischen Lehrmeinung unterscheidet:

"Damit sich übrigens nicht etwa jemand an dem neuen Gebrauch des Wortes 'Intuition' und anderer Worte stößt, die ich im Folgenden gleicherweise ihrer gängigen Bedeutung entfremden muss, merke ich hier ganz allgemein an, dass ich überhaupt nicht daran denke, wie jedes Wort in jüngster Zeit in den Schulen gebraucht worden ist, weil es sehr misslich wäre, sich derselben Ausdrücke zu bedienen und etwas völlig anderes zu meinen, sondern ich beachte nur, was die einzelnen Worte im Lateinischen bedeuten, um, sooft treffende Ausdrücke fehlen, solche, die mir am besten zu passen scheinen, in meinem Sinne zu übernehmen." [23]

Über die Art dieses Bedeutungs- bzw. Definitionsunterschiedes gibt Descartes leider keine Auskunft. Zu der Art der Cartesianische Entfremdung des Begriffs Intuition schweigt leider auch die Literatur, in der diese Bemerkung übergangen und nicht weiter hinterfragt wird.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei der Intuition um die grundlegende, rein geistige Verstandesaktivität handelt, die sich auf nicht-materielle, intelligible (nicht sinnlich wahrnehmbare) Objekte richtet. Eine durch Intuition gewonnene Erkenntnis ist wahr, absolut sicher und lässt keinen Raum für Zweifel oder Spekulationen. Sie kann nicht weiter hinterfragt werden, kann jedoch als Ausgangpunkt weiterer Erkenntnis dienen.

4. Beispiele intuitiver Erkenntnis

Im Anschluss an die oben erläuterte Definition zählt Descartes einige Beispiele intuitiver Erkenntnis auf:

"So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, dass er existiert, dass er denkt, dass ein Dreieck von nur drei Linie, dass die Kugel von einer einzigen Oberfläche begrenzt ist und Ähnliches, weit mehr als die meisten gewahr werden, weil sie es verschmähen, ihr Denken so leichten Sachen zuzuwenden." [24]

Besonders die letzen beiden Beispiele verdeutlichen wie intuitives Erkennen vor sich geht. Es zerlegt komplexe Gegenstände in ihre einfachsten Bestandteile. Die zusammengesetzte Form des Dreiecks wird in drei einzelne Seiten zerlegt, die Kugel wird quasi aufgeschnitten, die Wölbung entfernt, so dass die Oberfläche klar hervortritt. Diese einfachen Verhältnisse können dann als Ausgangspunkt neuer durch Ableitung gewonnene Erkenntnisse werden.
Die von Descartes zuerst genannten Beispiele werfen dabei jedoch ein Problem auf. Er behauptet hier, dass die Erkenntnis der eigenen Existenz und des eigenen Denkens intuitive Erkenntnisse sein. Führt man sich die erste und zweite Meditation vor Augen so kann man hier einen Widerspruch erkennen. Wird im bekannten cogito-ergo-sum, angestoßen durch den methodischen Zweifel, nicht die eigne Existenz aus dem eigenen Denken hergeleitet? Handelt es sich bei der Bemerkung: "Und so komme ich, nachdem ich derart alles mehr als zur Genüge hin und her erwogen habe, schließlich zu dem Beschluss, dass dieser Satz: 'Ich bin, ich existiere', sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist." [25] nicht um eine Deduktion?

Mit dieser Frage, die auch den Widerspruch der Zeitgenossen hervorrief, haben sich auch Röd [26] und Perler [27] eingehend befasst. Zunächst muss festgestellt werden, dass in Regel 3 die beiden Bemerkungen "dass man existiert, dass man denkt" nicht miteinander Verbunden sind. auch in der zweiten Meditation besteht keine Verbindung dieser aussagen. Das "Ich bin, ich existiere" ist hier eine Denk- bzw. Sprachakt und durch das Denken bzw. das Aussprechen der Sätze "Ich bin, ich denke" kommt diesen Wahrheit zu. Die Standardformulierung [28] "cogito, ergo sum" stammt aus den 1644 veröffentlichten "Prinzipien der Philosophie" (Erster Teil, Absatz 7):

"Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und es selbst als falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was zu dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht existiert. Demnach ist der Satz: ich denke, also bin ich (ego cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller Erkenntnis, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet." [29]

Die erste Fassung dieses Satzes entstammt jedoch dem in Französisch publizierten "Bericht über die Methode" (1637):

"Da ich bemerkt hatte, dass es in dem Satz: Ich denke, also bin ich (je pense, donc je sui), nichts anderes gibt, was mich versicherte, die Wahrheit zu sagen, als dass ich sehr klar sehe, dass man, um zu denken, sein muss, schloss ich, ich könne als allgemeine Regel annehmen, dass die Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen, alle wahr sind, dass nur eine gewisse Schwierigkeit darin besteht, richtig zu merken, welche Dinge diejenigen sind, die wir deutlich begreifen."[30]

Descartes hatte sich in den Einwänden zu seinen Meditationen vorwerfen lassen müssen, einen unvollständigen Syllogismus vorgelegt zu haben. Das Cogito-Argument gehe dabei von einer singulären Prämisse – ich denke – aus und komme zu der Konklusion – ich existiere. Damit dies möglich sei, müsse jedoch noch eine zweite, allgemeine Prämisse hinzugezogen werden, die da lautet – alles, was denkt, existiert. Perler hat dargelegt, dass sich Descartes strikt gegen eine solche Interpretation des Cogito-Arguments aussprach. [31] Es sei falsch anzunehmen, dass man zuerst eine allgemeine Prämisse erkennen und aus dieser dann weitere Erkenntnisse ableiten könne. Es sei vielmehr so, dass man zuerst den einfachen Sachverhalt des Ich-Denkens vermittels der Intuition an sich selbst erkennen müsse. Einen allgemeinen Satz – alles, was denkt, existiert – könne man erst bilden, wenn man an sich selbst erfahren habe, dass man nicht denken könne, ohne zu existieren. Den Ausgangspunkt der Reflexion bildet also die intuitive Erkenntnis des Ich-Denkens. Die angebliche allgemeine Prämisse des oben angedeuteten Syllogismus wird somit nur zu einer Verallgemeinerung des bereits intuitiv Erkannten.

In ähnlicher Weise interpretiert auch Röd [32] das Problem des Cogito-Arguments. Er weist zunächst darauf hin, dass Descartes keine "völlig scharfe Abgrenzung" zwischen den Begriffen Intuition und Deduktion vorgenommen habe. Seiner Meinung nach handle es sich bei dem eingeschobenen "ergo" um eine notwendige Verknüpfung der intuitiv erkannten einfachen Naturen "Denken" und "Existieren". Die erste einfache Natur ist ohne die zweite einfache Natur nicht vorstellbar.

Die Diskussion um das erste Prinzip der Cartesianischen Philosophie gehe nach Ansicht Röds auch daraus hervor, dass Descartes keine strikte Entweder-Oder-Trennung zwischen intuitiver Erkenntnis und Deduktion formuliert habe. Intuitive Erkenntnisse seinen zwar sicherer als die Erkenntnisse, die aus Deduktionen gewonnen werden könnten, dennoch müsse festgehalten werden, dass bei korrekter Anwendung der Methode auch die Deduktion wahre und sichere Erkenntnisse liefere. Worum es Descartes nach Ansicht Röds vor allem ging, war eine Abgrenzung seiner Methode gegenüber den Schlussregeln der aristotelisch-mittelalterlichen Syllogistik. Descartes sei der Meinung gewesen, dass sich das denkende Ich nicht unter den allgemeinen Begriff "denkendes Wesen" fassen lasse.

5. Epilog

Die Behauptung, die Erkenntnis des eigenen Denkens bzw. die der eigenen Existenz entspringe einem mühelosen und deutlich bestimmten Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, bleibt für mich dennoch problematisch. Die Aussage, dass ein Dreieck von nur drei Seiten oder eine Kugel von nur einer Oberfläche umgeben ist, kann meiner Meinung nach nicht auf einer Stufe mit der Aussage "Ich denke" oder "Ich existiere" stehen. Dass es sich hierbei um eine rein geistige Erkenntnis handelt, bleibt unbestritten. Folgt man der Skepsis Descartes kann man an einer negativen Beurteilung der Sinneswahrnehmungen nicht vorbei.

Hierin liegt vielleicht das stärkste Argument. Wie bereits ausgeführt, werden beim intuitiven Erkennen komplexe Sachverhalte in ihre einfachen Bestandteile zerlegt. Die menschliche Existenz ist eine komplexe Sache. Sie besteht aus Sinneseindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben. Descartes geht von diesen Bestandteilen aus, kommt jedoch zu der Feststellung, dass sie nicht der Kern des Ichs, des Existierens sind. Die Sinne können getäuscht werden, Erfahrungen können sich als falsch herausstellen, so dass man gezwungen ist, seine Meinung zu ändern und schließlich können Erinnerungen verblassen oder ganz ausgelöscht werden. Dennoch muss es, und hier setzt Descartes in der zweiten Meditation an, etwas geben, dass zuverlässig und nicht bezweifelbar ist und dies ist das Ich. Dieses Ich verharrt jedoch nicht im Nichts und in der Untätigkeit. Es denkt. Existieren und Denken sind für Descartes also synonyme Begriffe. Dass eine lässt sich ohne das andere nicht erklären. Das die Erkenntnis des cogito-ergo-sum jedoch das Ergebnis eines mühelosen Erkennens ist, muss bezweifelt werden.

Herr Hager

Literaturverzeichnis

 

a) Primärtexte/Ausgaben

 

Buchenau, Arthur (Hg./Übers.): René Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 1972 (PhB 27).

Buchenau, Artur (Hg./Übers.): Descartes, René, Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 19928 (PhB 28).

Fischer, Kuno (Hg./Übers.): René Descartes' Hauptschriften zur Grundlegung seiner Philosophie, Mannheim 1863.

Gäbe, Lüder (Hg./Übers.): René Descartes, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, Hamburg 1979 (PhB 262b).

Glockner, Hermann (Hg.): René Descartes, Anhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Stuttgart 1961/1995. [Die Ausgabe enthalt die Übersetzung Fischers und ein Nachwort Glockners.]

Ostwald, Holger (Hg./Übers.): Descartes, René, Bericht über die Methode, die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen, Stuttgart 2001. [Die Ausgabe enthalt den franz. Text und eine dt. Übersetzung.]

 

b) Sekundärtexte/Darstellungen und Analysen

 

Beck, Leslie John, The Method of Descartes. A study of the Regulae, Oxford 1970.

Lenk, Hans, Kleine Philosophie des Gehirns, Darmstadt 2001.

Perler, Dominik, René Descartes, München, 1998 (BsR 542).

Röd, Wolfgang: Descartes' Erste Philosophie. Versuch einer Analyse mit besonderer Berücksichtigung der Cartesianischen Methodologie, Bonn 1971 (Kantstudien, Ergänzungshefte, Nr. 103).

Röd, Wolfgang, Regulae ad directionem ingenii, in: Lexikon der philosophischen Werke, hg. v. Volpi, Franco u. Nida-Rümelin, Julian, Stuttgart 1988, S.617f. (Körners Taschenaus¬gabe, Bd. 489).

Röd, Wolfgang, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, München 19953.

Schulz, Uwe, Descartes. Biographie, Hamburg 2001.

Schwitzgebel, Gottfried: Intuition, in: Prechtel, Peter u. Burkard, Franz-Peter (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar 1996, S. 245.

s. v. Intuition, in: Regenbogen, Armin u. Meyer, Uwe (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 325f. (PhB 500).

Wichmann, Thomas: Descartes, René, in: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, hg. v. Lutz, Bernd, 2. Auf., Stuttgart, Weimar 1995, S.211-217.

Wolters, Gereon: Intuition, in: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2., Mannheim/Wien/Zürich 1984, S. 285f. 

 

Anmerkungen:

 

[1] Pease, Allen & Barbara: Warum Frauen schlecht einparken… Ganz natürliche Erklärungen für weibliche Schwächen, Berlin 20034, S. 26-28 u. 33f.; siehe auch: Pease, Allen & Barbara: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken. Ganz natürliche Erklärungen für eigentlich unerklärliche Schwächen, München 2000.

[2] Hans Lenk hat in seinem Buch Kleine Philosophie des Gehirns (2001) darauf hingewiesen, dass die "traditionelle Philosophie und Erkenntnistheorie" sich bisher zu wenig mit den Erkenntnissen der Neuro- und Kognitionswissenschaften über die Beschaffenheit und Funktion des Gehirns beschäftigt habe. Erst in den letzen Jahren sei ein gestiegenes Interesse an den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaftler zu erkennen (ebd. S. 1). Dem muss hinzugesetzt werden, dass es demnach auch kaum philosophische Forschungen zu Thema des geschlechterspezifischen Philosophierens vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung gibt. Die Mehrzahl der feministischen Projekte in der Philosophie orientieren sich vielmehr am Feminismus als politischer Bewegung.

[3] Schwitzgebel, in: Prechtel/Burkard 1996, S 245.

[4] Spinoza, Baruch de, Ethik. In geometrischer Weise behandelt in fünf Teilen, in: Philosophie von Platon bis Nietzsche, hg. v. Hansen, Frank-Peter, Berlin 1998, S. 16890-16895 (Digitale Bibliothek, Bd. 2); Schwitzgebel in Prechtel/Burkard 1996, S 245; Prill, Ulrich, Spinoza, Baruch de, in: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, hg. v. Lutz, Bernd, 2. Auf., Stuttgart, Weimar 1995, S. 847-853, bes. S. 850.

[5] Wolters in Mittelstraß 1984, S. 285.

[6] Regenbogen/Meyer 1998, S. 325.

[7] Schwitzgebel in Prechtel/Burkard 1996, S 245.

[7a] Kirchner 1907 (textlog.de).

[8] Schulz 2001, S. 102.

[9] Gäbe 1979, S. XI.

[10] ebd. XXII.

[11] ebd. S. 5.

[12] ebd. S. 9.

[13] ebd. S. 13.

[14] ebd. S. 16.

[15] ebd. S. 10f.

[16] Beck 1970, S. 52.

[17] Perler 1998, S. 52-62.

[18] Ob sich Descartes überhaupt mit Fragen der Gleichberechtigung beschäftigt hat, ist bisher nicht untersucht worden. Im ersten Kapitel der Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs (1637) heißt es: "Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich in diesem Punkte [die Verteilung des "gesunden Verstandes", Anmerk. Hager) alle Leute täuschen, sondern es beweißt vielmehr, dass das Vermögen, richtig zu urteilen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, dieser eigentlich sogenannte gesunde Verstand oder die Vernunft (raison), von Natur in allen Menschen gleich ist, und also die Verschiedenheit unserer Meinungen nicht daher kommt, dass die einen mehr Vernunft haben als die anderen, sondern lediglich daher, dass unsere Gedanken Verschiedene Wege gehen und wir nicht alle dieselben Dinge betrachten."; zitiert nach, Glockner 1995, S. 3.

[19] Buchenau 1972, S. 12.

[20] Röd 1995, S. 130-144.

[21] Röd 1971, S. 50.

[22] Gäbe 1979, S.50.

[23] ebd. S. 11.

[24] ebd.

[25] Buchenau 1972, S. 18.

[26] Röd 1971, S. 49-51.

[27] Perler 1998, S. 139-149.

[28] ebda. S. 139.

[29] Buchenau 1992, S. 2f.

[30] Ostwald 2001, S. 65-67.

[31] Perler 1998, S. 140.

[32] Röd 1971, S. 49-51.

Abbildung:

1) Porträt René Descartes, um 1650; © Musée du Louvre/A. Dequier - M. Bard