Herbert Marcuse: Feindanalysen - Über die Deutschen
hg. v. Peter-Erwin Jansen, zu Klampen Verlag, Springe 2007 (Nachgelassene Schriften, Bd. 5).
Der fünfte Band der neu herausgegebenen und überarbeiteten
Nachlassschriften Marcuses enthält nunmehr insgesamt neun, in der Zeit
von 1939 bis 1947 entstandene, Texte. Darunter finden sich neben den
Arbeiten, die Marcuse für das US-amerikanische
Office of Strategic Services (OSS) und das State Department
erstellte, auch Entwürfe für wissenschaftliche Forschungsvorhaben
("Kriegs- und Nachkriegsgeneration") und Publikationen ("33 Thesen zur
militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus"), die diesen
vorausgingen oder auf ihnen aufbauten.
Neben dem zentralen
Memorandum "Die neue deutsche Mentalität" erscheint mir der Artikel
"Staat und Individuum im Nationalsozialismus" von besonderem
historischen Interesse, da Marcuse hier seine Analyse des
Nationalsozialismus in knapper und prägnanter Form zusammengefasst
hat.
Marcuse wendet sich zunächst gegen die Behauptung, der
Nationalsozialismus habe in Deutschland eine Revolution, d. h. eine
Umwälzung der Herrschafts- und Produktionsverhältnisse, bewirkt.
Seiner Ansicht nach habe der Nationalsozialismus vielmehr zu einer
Festigung der spätestens seit dem Kaiserreich bestehenden
Machtstrukturen geführt. Für Marcuse ist im Zusammenhang mit seiner
Kapitalismuskritik die Allianz zwischen Partei und
Wirtschaft/Industrie von besonderem Interesse und seiner Ansicht nach
von zentraler Bedeutung für den Aufstieg der Nationalsozialisten.
Sodann legt Marcuse dar, dass in Bezug auf die
nationalsozialistische Herrschaft nicht von einem totalitären Staat
gesprochen werden könne und beschreibt welche Rolle dem Staat im
Dritten Reich überhaupt zukomme. Für die Nationalsozialisten sei nach
eigenem Bekunden der Staat nur Mittel zum Zweck und keineswegs das
Endprodukt ihrer Herrschaft. Schließlich hält Marcuse den Begriff
Staat, in seiner liberal-bürgerlichen Interpretation, für eine
Beschreibung der nationalsozialistischen Herrschaft für unpassend, da
im Dritten Reich keine Trennung mehr zwischen Staat und Gesellschaft -
Politischem und Unpolitischem - existiere. "So zeigt sich der
nationalsozialistische Staat als dreifache Souveränität von Industrie,
Partei und Wehrmacht, die das vormalige staatliche Gewaltmonopol unter
sich aufgeteilt haben." (S. 149) Hitler bezeichnet er in diesem
Machtgefüge als "konfliktregulierendes Zentrum". Als vierte Säule der
nationalsozialistischen Herrschaft führt Marcuse schließlich die
(Staats-)Bürokratie an, der als Terrorinstrument entscheidende
Bedeutung bei der Beherrschung der Gesellschaft zukomme.
Marcuses Arbeiten für die US-amerikanischen Behörden hatten zum Ziel,
die Mechanismen der nationalsozialistischen Herrschaft aufzuzeigen,
ihre Entstehung zu erklären, bei der Bekämpfung des Dritten Reiches zu
helfen und Zukunftsperspektiven für das besiegte Deutschland
aufzuzeigen. Nach Claussens Angaben in der Einleitung des Bandes
schätzte Marcuse seinen Einfluss auf die Strategie der Amerikaner als
gering ein: "Später hat Herbert Marcuse nur noch abgewunken oder
gelacht, wenn er darauf angesprochen wurde, welcher Gebrauch von
seinen Analysen für die US-amerikanische Nachkriegspolitik in
Deutschland gemacht wurde." (S. 15)
In den Sechzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts wurde Marcuse aufgrund seiner
Geheimdiensttätigkeiten während des Zweiten Weltkriegs und seiner
späteren Arbeit für das State Department (bis 1950) von Rechten und
Linken angegriffen und als CIA-Agent verleumdet (siehe
zusammenfassend: Der Spiegel, Nr. 27, 1969). Der Band liefert dazu
einen kurzen Brief Inge Marcuses an die Redaktion des Spiegels, in dem
sie ihr Erstaunen über die "phantasievolle(n) neue(n) Phase der
Marcuse-Hetze" zum Ausdruck bringt (S. 28). Gegenüber dem Spiegel
stellte Marcuse kurz und knapp fest: "Ich war niemals beim CIA und
kenne auch keinen Herrn Gehlen." Die Bedeutung von Marcuses Arbeit
beim OSS wollte zu jener Zeit wohl niemand angemessen würdigen.
Der Nachkriegsgeneration und dem heutigen Leser, der sich mit der
Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland auseinandersetzten will,
hat Marcuse einen unschätzbar wertvollen Dienst erwiesen. Die in
diesem Band zusammengetragenen Arbeiten sind sowohl historische
Quellen als auch (geschichts-)wissenschaftliche Analysen und somit im
Rahmen eines Studiums unverzichtbar.
Herr Hager (2007)